Der Hund muss (gar nichts)
- jilseelbach

- 29. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Meiden empfinden viele Menschen als grundlegende Schwäche.
Gerade beim Thema Angst – aber auch in anderen Kontexten – wird das Vermeiden einer Situation beim Hund häufig als problematisch wahrgenommen.
Teilweise ist das sogar nachvollziehbar:
Viele Menschen befürchten, dass sich ein Hund sonst nicht weiterentwickeln würde.
Doch diese Sorge darf man zunächst zur Seite legen.
Denn:
Ein Vermeiden, wie wir es aus unserem eigenen, menschlichen Alltag kennen, unterscheidet sich grundlegend von dem, was bei einem Hund geschieht.
Mensch vs. Hund
In der humanen Psychologie wird Vermeidungsverhalten tatsächlich kritisch bewertet – und das zurecht.
Wenn ich beispielsweise Angst vor Spinnen habe und meine Waschmaschine im Keller steht – dort, wo viele Spinnen sind – würde ich bei Vermeidungsverhalten eben den Keller meiden.
Ich wäre also nicht mehr in der Lage, meine Wäsche dort zu waschen.
Das hätte direkte Auswirkungen auf meine Lebensqualität:
Ich müsste Alternativen organisieren, was Zeit, Geld und Flexibilität kostet.
Dieses Vermeiden ist „strategisch“ – ich denke voraus, plane meine Alternativen, weiche aus.
Genau dieses Denkmodell wird oft auf Hunde übertragen.
Und das ist ein Fehler.
Denn Hunde verfügen nicht über die kognitive Kapazität für solche strategischen Vermeidungsmechanismen.
Sie analysieren nicht, sie planen nicht voraus – sie reagieren:
Emotional. Instinktiv. Situativ.
Wenn ein Hund meidet, trifft er keine Entscheidung im Sinne von:
„Ich gehe diesem Thema bewusst aus dem Weg.“
Vielmehr reagiert er auf ein inneres Erregungslevel, das ihn überfordert – mit Rückzug, mit Blickabwendung, mit Flucht.
Meiden ist eine Stress- und Schutzreaktion.
Kein Mangel an Lernwille, kein Ungehorsam, sondern ein Versuch, sich selbst zu regulieren.
Was im Gehirn passiert, wenn ein Hund meidet
Neurobiologisch lässt sich das nachvollziehen:
Wird ein Reiz als bedrohlich wahrgenommen, wird das limbische System (Zuständigkeit: zentrale Rolle bei Emotionen, Motivation und Gedächtnis spielt) aktiviert – insbesondere die Amygdala, das Angstzentrum im Gehirn.
In Sekundenbruchteilen werden Adrenalin und Cortisol (Stresshormone) ausgeschüttet, der Körper geht in Alarmbereitschaft.
Flucht oder Erstarren sind dabei vollkommen normale Reaktionen.
Der wahrgenommene Reiz wird zusammen mit dem Kontext im Hippocampus (Zuständigkeit: Lernen und Gedächtnis) abgespeichert – daraus kann sich eine Generalisierung entwickeln.
Ähnliche Situationen werden dann in Zukunft ebenfalls gemieden.
Gleichzeitig setzt das Gehirn auf Regulation:
Botenstoffe (Neurotransmitter zuständig für: das innere Gleichgewicht) wie GABA (beruhigt), Serotonin (Wohlfühlhormon) und Noradrenalin (Wachmacher) helfen dabei, den Körper nach einer Stressreaktion wieder in einen ruhigeren Zustand zu bringen.
Kleines Päuschen gefällig?
Hunde machen genau das: eine "Pause", um sich zu regulieren.
Und das ist nicht nur klug, sondern auch hochfunktional.
Diese Pause ist kein Stillstand – sie ist die Grundlage für Stabilität und Entwicklung.
In ihr wird beobachtet, bewertet, manchmal sogar neu gelernt – im präfrontalen Kortex (Zuständigkeit: kognitive Prozesse- wie denken, handeln, planen, lösen, kontrollieren sowie Soziales wie Emotionen regulieren), dem Bereich für Verarbeitung und Regulation.
Meiden ist per se also nichts Schlechtes.
Genauso wenig wie Angst, Wut oder Frust – es sind alles Signale für ein inneres Ungleichgewicht, für ein Bedürfnis nach Schutz, Sicherheit und Lösungen.
Sie dienen dem Anstieg bzw. der Stabilisierung von Wohlbefinden – und dem Selbsterhalt.
Ich habe Mika meiden lassen.
Das musste ich erst lernen.
Weil ich mit der Zeit verstanden habe:
Wenn sie sich sicher fühlen darf, kann sie sich entwickeln.
In Situationen, in denen sie nicht „durchmusste“, konnte sie lernen.
In jenen, in denen sie musste, hat ihr Wohlbefinden gelitten – und es gab Stolpersteine.
Es hat viel erschwert.
Das war ein Lernprozess, vor allem für mich:
Keine menschlichen Gedanken auf Hundeverhalten und Hundesichten zu übertragen.
Pausen sind keine Passivität – sie sind klug
Meiden wird erst dann zum Problem, wenn der Hund keine Chance bekommt, sichere Erfahrungen zu machen.
Wenn man ihm die Entscheidung nimmt.
Wenn es keine Alternativen gibt.
Wenn der Rückzug seine einzige Möglichkeit bleibt.
Deshalb ist es unsere Aufgabe, nicht zu drängen, sondern zu begleiten.
Raum zu geben.
Zeit.
Orientierung.
Sich zu fragen:
Was könnte helfen, damit ein Hund sich entwickeln kann?
Ein Beispiel: Ein Hund, frisch aus dem Tierschutz, soll nach wenigen Tagen „funktionieren“.
Er hatte noch keine Gelegenheit, sich sicher zu erleben. Sich zu stabilisieren.
Kein Vertrauen.
Kein Fundament.
Es wird aber gefordert.
Lasse dies. Tue das.
Manchmal gut gemeint, manchmal auch nicht.
Wenn Funktionieren zum Trugbild wird
Wenn dieser Hund in jeder Situation nur „durchmuss“, hat er keine Wahl.
Dann wird Meiden nicht zur Brücke, sondern zur Mauer.
Und genau das wollen wir „vermeiden“ ;-)
Denn wenn wir einem Hund das Meiden nicht zugestehen und ihn wahllos mit Situationen konfrontieren, entsteht keine Entwicklung – sondern Resignation (Ausweglosigkeit).
Der Hund „funktioniert möglicherweise – aber innerlich zieht er sich zurück.
Was nicht bedeutet, dass er nicht mehr mitläuft oder alles vermeidet.
Gerade weil ein Hund äußerlich „funktioniert“, wirkt sein Verhalten oft wie ein Erfolg.
Doch dieser Schein trügt – denn das Funktionieren ist häufig ein Zeichen innerer Aufgabe.
Neurobiologisch erleben wir dann keine Lernprozesse, sondern einen Zustand erlernter Hilflosigkeit:
Das Gehirn schaltet auf Notbetrieb, Stresshormone bleiben dauerhaft erhöht, und das Gefühl von Kontrolle geht verloren.
Es wird funktioniert, denn was hat der Hund für eine Wahl?
Es ist ein Irrglaube das Hunde dann unter der erlernten Hilflosigkeit, passiv sind.
Lernen braucht immer Entscheidungsfreiheit, Selbstbestimmung.
Entwicklung braucht Wohlbefinden.
Druck verhindert Entwicklung.
Meiden ist kein Rückschritt.
Es ist der erste Schritt auf dem Weg zur Selbstwirksamkeit.
Beobachtest du bei deinem Hund ein solches Meideverhalten, das dich verunsichert?
Dann melde dich gerne bei mir – gemeinsam schaffen wir Klarheit und finden passende Lösungen.
Mit Einfühlungsvermögen und Fachwissen stehe ich euch zur Seite.
Liebe und Pfoten gehen raus
Jil



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